Von P. K. Sczepanek


(1) Objektive Unterscheidungsmerkmale einer Minderheit im völkerrechtlichen Sinne



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(1) Objektive Unterscheidungsmerkmale einer Minderheit im völkerrechtlichen Sinne

(a) Individuelle objektive Unterscheidungsmerkmale

(aa) Allgemein

(bb) Religiöses Unterscheidungsmerkmal

(cc) Sprachliches Unterscheidungsmerkmal

(dd) Ethnisches Unterscheidungsmerkmal

(ee) Weitere Minderheitenarten

(b) Die machtmäßige Unterlegenheit der Minderheit

(c) Die Staatsangehörigkeit als ungeschriebenes objektives Begriffsmerkmal

(d) Das Merkmal der Stabilität


(e) Schicksalsgemeinschaft aufgrund territorialbezogener völkerrechtlicher Akte

(f) Weitere objektive Kriterien

(2) Das Erfordernis subjektiver Kriterien

(a) Zugehörigkeitsgefühl

(b) Solidaritätsgefühl


cc. Bewertung

(1) Polen keine Minderheit in Deutschland

(2) Schutz der deutschen Minderheit in Polen

2. Kultur

a. Allgemein



b. Rückgabe von in Kriegszeiten verbrachtem Kulturgut

aa. Haager Landkriegsordnung

bb. Rechtfertigungsgründe

(1) Bedingungslose Kapitulation

(2) Kunstwerke Eigentum Polens

(3) Kompensation

(a) Zurückbehaltungsrecht

(b) Restitution in kind

c. Resümee

III. Schluss

Rechtswissenschaftliche Betrachtung der aus dem Nachbarschaftsvertrag erwachsenen Regelungen zum Minderheitenrecht und zur Pflege des kulturellen Erbes.

I. Inhalt des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags

1. Abschluss

Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag (amtlich: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, polnisch: Traktat między Rzeczypospolitą Polską a Republiką Federalną Niemiec o dobrym sąsiedztwie i przyjaznej współpracy z 17.06.1991 r.) wurde am 17. Juni 1991 in Bonn von Bundeskanzler Helmut Kohl, dem deutschen Außenminister Hans Dietrich Genscher sowie dem Ministerpräsidenten Jan Krzysztof Bielecki und dem Außenminister Krzysztof Skubiszewski unterzeichnet. Er ergänzt den im Herbst 1990 ausgehandelten deutsch-polnischen Grenzvertrag, der eine der Vorbedingungen seitens der Alliierten für die deutsche Wiedervereinigung war. Beide Verträge wurden Ende 1991 von den Parlamenten ratifiziert und traten am 16. Januar 1992 in Kraft.



2. Inhalt

a. Verpflichtung der Beachtung allgemeiner völkerrechtlicher Prinzipien

Die Vertragsparteien bekennen sich bei der Gestaltung ihrer Beziehungen und in Fragen des Friedens, der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in der Welt insbesondere zum obersten Ziel ihrer Politik, den Frieden zu wahren und zu festigen und jede Art von Krieg zuverlässig zu verhindern.1 Sie bekräftigen das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei und ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu gestalten.2 Sie stellen den Menschen mit seiner Würde und mit seinen Rechten, die Sorge für das Überleben der Menschheit und die Erhaltung der natürlichen Umwelt in den Mittelpunkt ihrer Politik.3 Sie verurteilen klar und unmissverständlich Totalitarismus, Rassenhass und Hass zwischen Volksgruppen, Antisemitismus, Fremdenhass und Diskriminierung irgendeines Menschen sowie die Verfolgung aus religiösen und ideologischen Gründen. 4 Sie betrachten Minderheiten und gleichgestellte Gruppen als natürliche Brücken zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk und sind zuversichtlich, dass diese Minderheiten und Gruppen einen wertvollen Beitrag zum Leben ihrer Gesellschaften leisten.5 Sie bekräftigen die unmittelbare Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht und in den internationalen Beziehungen und sind entschlossen, ihre vertraglichen Verpflichtungen gewissenhaft zu erfüllen.6

Die Vertragsparteien bekräftigen, dass sie sich der Drohung mit oder Anwendung von Gewalt enthalten werden, die gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit der jeweils anderen Vertragspartei gerichtet oder auf irgendeine andere Art und Weise mit den Zielen und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen oder mit der Schlussakte von Helsinki unvereinbar ist.7

b. Minderheitenschutz

Art. 20 des Nachbarschaftsvertrages widmet sich den Minderheiten: Die Angehörigen der deutschen Minderheit in der Republik Polen, das heißt Personen polnischer Staatsangehörigkeit, die deutscher Abstammung sind oder die sich zur deutschen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen, sowie Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen, haben das Recht, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln, frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren Willen assimiliert zu werden. Sie haben das Recht, ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz voll und wirksam auszuüben.8

Die Vertragsparteien erklären, dass die in Art. 20 Abs. 1 genannten Personen insbesondere das Recht haben, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe


  • sich privat und in der Öffentlichkeit ihrer Muttersprache frei zu bedienen, in ihr Informationen zu verbreiten und auszutauschen und dazu Zugang zu haben,

  • ihre eigenen Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen, -organisationen oder -vereinigungen zu gründen und zu unterhalten, die um freiwillige Beiträge finanzieller und anderer Art sowie öffentliche Unterstützung im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften ersuchen können und gleichberechtigten Zugang zu Medien ihrer Region haben,

  • sich zu ihrer Religion zu bekennen und diese auszuüben, einschließlich des Erwerbs und Besitzes sowie der Verwendung religiösen Materials, und den Religionsunterricht in ihrer Muttersprache abzuhalten,

  • untereinander ungehinderte Kontakte innerhalb des Landes sowie Kontakte über Grenzen hinweg mit Bürgern anderer Staaten herzustellen und zu pflegen, mit denen sie eine gemeinsame ethnische und nationale Herkunft, ein gemeinsames kulturelles Erbe oder religiöses Bekenntnis teilen,

  • ihre Vor- und Familiennamen in der Form der Muttersprache zu führen,

  • Organisationen und Vereinigungen in ihrem Land einzurichten und zu unterhalten und in internationalen nichtstaatlichen Organisationen mitzuwirken,

  • sich wie jedermann wirksamer Rechtsmittel zur Verwirklichung ihrer Rechte im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften zu bedienen.9

Die Vertragsparteien bekräftigen, dass die Zugehörigkeit zu den in Absatz 1 genannten Gruppen Angelegenheit der persönlichen Entscheidung eines Menschen ist, die für ihn keinen Nachteil mit sich bringen darf10. Die Vertragsparteien werden gemäß Art. 21 Abs. 1 die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität der in Art. 20 Abs. 1 genannten Gruppen auf ihrem Hoheitsgebiet schützen und Bedingungen für die Förderung dieser Identität schaffen. Sie erkennen die besondere Bedeutung einer verstärkten konstruktiven Zusammenarbeit in diesem Bereich an. Diese soll das friedliche Zusammenleben und die gute Nachbarschaft des deutschen und des polnischen Volkes verstärken und zur Verständigung und Versöhnung zwischen ihnen beitragen.11

Die Vertragsparteien werden insbesondere im Rahmen der geltenden Gesetze

- einander Förderungsmaßnahmen zugunsten der Angehörigen der in Art. 20 Absatz 1 genannten Gruppen oder ihrer Organisationen ermöglichen und erleichtern,


  • sich bemühen, den Angehörigen der in Artikel 20 Absatz 1 genannten Gruppen, ungeachtet der Notwendigkeit, die offizielle Sprache des betreffenden Staates zu erlernen, in Einklang mit den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften entsprechende Möglichkeiten für den Unterricht ihrer Muttersprache oder in ihrer Muttersprache in öffentlichen Bildungseinrichtungen sowie, wo immer dies möglich und notwendig ist, für deren Gebrauch bei Behörden zu gewährleisten,

  • im Zusammenhang mit dem Unterricht von Geschichte und Kultur in Bildungseinrichtungen die Geschichte und Kultur der in Artikel 20 Absatz 1 genannten Gruppen berücksichtigen,

  • das Recht der Angehörigen der in Artikel 20 Absatz 1 genannten Gruppen achten, wirksam an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen, einschließlich der Mitwirkung in Angelegenheiten betreffend den Schutz und die Förderung ihrer Identität,

  • diesbezüglich die notwendigen Maßnahmen ergreifen, und zwar nach entsprechenden Konsultationen im Einklang mit den Entscheidungsverfahren des jeweiligen Staates, wobei diese Konsultationen Kontakte mit Organisationen oder Vereinigungen der in Artikel 20 Absatz 1 genannten Gruppen einschließen.12

Da in Art. 20 Abs. 3 von „öffentlicher Unterstützung“, also staatlicher Hilfe für polnische Kultur- und Bildungsarbeit und Pflege der Muttersprache in Deutschland im Vertrag die Rede ist, verpflichtete sich Warschau umgekehrt dazu, mit den Deutschen in Polen genauso zu verfahren.

c. Kultur

Neben den Bestimmungen der Art. 23 über den Kulturaustausch, Art. 24 über die Errichtung und die Tätigkeit von Kulturinstituten und Art. 25 über den umfassenden Zugang zur Sprache und Kultur des anderen Landes widmet sich besonders Art. 28 der Kultur: Die Vertragsparteien werden bei der Erhaltung und Pflege des europäischen kulturellen Erbes zusammenarbeiten. Sie werden sich für die Denkmalpflege einsetzen.13

Die Vertragsparteien werden sich der auf ihrem Gebiet befindlichen Orte und Kulturgüter, die von geschichtlichen Ereignissen sowie kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen und Traditionen der anderen Seite zeugen, besonders annehmen und zu ihnen freien und ungehinderten Zugang gewährleisten beziehungsweise sich für einen solchen Zugang einsetzen, soweit dieser nicht in staatlicher Zuständigkeit geregelt werden kann. Die genannten Orte und Kulturgüter stehen unter dem Schutz der Gesetze der jeweiligen Vertragsparteien. Die Vertragsparteien werden gemeinsame Initiativen in diesem Bereich im Geiste der Verständigung und der Versöhnung verwirklichen.14

Im gleichen Geiste sind die Vertragsparteien bestrebt, die Probleme in Zusammenhang mit Kulturgütern und Archivalien, beginnend mit Einzelfällen zu lösen.15



II. Minderheitenschutz und Kultur

1. Minderheitenschutz

a. Polen in Deutschland

aa. Einwanderung im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

In der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wanderten viele „preußische Polen“ in das westfälische Industriegebiet. Auch wenn der Anteil der „Ruhrpolen“ die Fünf-Prozent-Marke nie überschritt, gab es in einzelnen Regionen wesentlich höhere Bevölkerungsanteile. Im Jahr 1912 betrug beispielsweise der Anteil der polnischen Bevölkerung in Habinghorst (Landkreis Dortmund) 53,2 Prozent, in Sodingen 44 Prozent. Als Folge der Zuwanderung aus den ostdeutschen Provinzen wurde die Stadt Bottrop im Ruhrgebiet aufgrund der vielen polnischen Zuwanderer auch Klein Warschau bezeichnet.16 Wanne trug den inoffiziellen Titel „polnische Hauptstadt Westfalens“, Duisburg-Hamborn hieß im Volksmund „Polen am Rhein“ und Bochum war die Heimat der polnischen Arbeiterbank, einer einflussreichen polnischen Gewerkschaft und einer polnischen Arbeiterzeitung sowie das Zentrum der Intelligenz der sogenannten Ruhrpolen.17

Viele Polen wanderten nach dem Ersten Weltkrieg weiter nach Westen in die Kohlereviere Belgiens und Frankreichs oder zurück nach Oberschlesien in den nun wieder entstandenen polnischen Staat. Andere passten sich an und verdeutschten ihren Namen, um nicht mehr als Polen aufzufallen. Gleichwohl gibt es noch viele polnische Namen in den Telefonbüchern der Städte des Ruhrgebiets und den Fußballfreunden sind immer noch aus der Zeit der 50er Jahre die Namen Erich Juskowiak und Horst Szymaniak bekannt, die für die deutsche Nationalmannschaft spielten. Als Ernst Kuzorra von Schalke 04 starb, wurde ein „deutsches“ Fußballidol und nicht ein Nachfahre polnischer Immigranten zu Grabe getragen.18 Die meisten der heute noch mit polnischen Namen ausgestatteten Familien haben keine Beziehung zu Polen, entweder, weil sie sich nie als Polen, sondern als Oberschlesier fühlten; oder als Deutsche in Oberschlesien lebten, aber einen polnischen Namen trugen, oder weil durch das lange Leben in Deutschland über Generationen hinweg die Beziehung zur Heimat der Vorvorfahren verloren gegangen ist. Es gab allerdings zunächst erhebliche Vorbehalte gegen die Neuankömmlinge aus Polen. So wurde ihr kulturelles Leben überwacht und die polnische Sprache verdrängt. Der Staat misstraute den Polen wie Staatsfeinden. Im Jahr 1909 wurde eine ausschließlich mit der Polenüberwachung beauftragte Polizeidienststelle in Bochum errichtet. Da die Polen mit niedrigeren Löhnen als die Deutschen zufrieden waren, wurden sie auf dem Arbeitsmarkt als unliebsame Konkurrenz gesehen.19

bb. Einwanderung in der Zeit des Umbruchs

Etwa 300.000 Polen kamen nach 1981, als in Warschau die Demokratiebewegung zerschlagen wurde, in die Bundesrepublik Deutschland und wurden nach und nach eingebürgert. Bis 1989 kamen etwa 1,3 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Manche bekannten sich tatsächlich zum Deutschtum, doch für viele waren deutsche Vorfahren ein willkommener Vorwand und der einzige Weg, um den Ostblock legal zu verlassen. Nach dem Untergang des Kommunismus 1990 kamen wieder Hunderttausende.20

Seit dem Jahr 1996 kamen aus Polen die meisten Zuwanderer nach Deutschland. In den letzten Jahren belief sich die Zahl der zugewanderten Polen meist zwischen 100.000 und 150.000. Der bisherige Rekord wurde im Jahr 2006 erreicht, als 163.643 Polen nach Deutschland einreisten. Im Jahr 2009 registrierten die Behörden 122.797 polnische Zuwanderer. Der Anteil der Polen an allen Zuwanderern betrug damit 30 Prozent. Polen sind nach den Türken schon heute die größte Zuwanderergruppe. Und mit 11.000 Studierenden stellen die Polen an deutschen Hochschulen eine der größten Ausländergruppen. Viele von ihnen werden bleiben.21

Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit einer jährlichen Nettozuwanderung mit rund 140.000 Osteuropäern; fast alle Forschungsinstitute bewegen sich innerhalb eines Korridors zwischen 100.000 und 200.000 im Jahr. Häufig wird dabei auch schlicht die Schwarzarbeit legalisiert.22 Im vergangenen Jahr arbeiteten schon 425.000 Bürger aus den acht neuen EU-Staaten, darunter 365.000 Polen in Deutschland, schätzte das Statistische Bundesamt. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Polen in Deutschland auf 419.000 Personen.23 Bisher hat es 9 von 10 zugewanderten Polen nach Westdeutschland gezogen, da die neuen Bundesländer wegen der geringeren Löhne nur als Durchgangsregion betrachtet werden.24



cc. Organisierung der Polen in Deutschland

Der 20. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrages veranlasste Menschen in Deutschland, Personen, die „polnische Wurzeln“ haben, zusammenzuführen. Maßgebend tätig ist hier der Konvent der polnischen Organisationen in Deutschland, zu dem sich der Bund der Polen 1998 mit vier anderen Dachorganisationen der Polonier zusammenschloss 25 Gefördert werden soll vor allem die Muttersprache und die Kulturpflege, aber natürlich hat man auch den Hintergedanken, als Gruppe finanzielle Förderungen durch den deutschen Staat zu erfahren. Würden nämlich die polnischstämmigen Menschen in Deutschland vergleichbar wie die Deutschen in Polen finanziert, müssten sie mehrere Millionen für die institutionelle Förderung bekommen. Hinzu kämen weitere zweistellige Millionenbeträge für das Schulwesen. Auch erwartet man sicher eine Unterstützung durch die Europäische Union.26



b. Deutsche in Polen

Bis zum Jahr 1990/1991 wurde die Existenz der deutschsprachigen Minderheit vom polnischen Staat geleugnet. Wegen des Verbots der deutschen Sprache und Kultur und der Diskriminierung Deutschstämmiger spielte alles Deutsche im öffentlichen Leben keine Rolle mehr. Deutschstämmige der Nachkriegsgenerationen sprachen in der Regel nicht mehr Deutsch als Muttersprache. Der Wiederaufbau der öffentlichen Tätigkeit der deutschen Minderheit nach der Wende war deswegen schwierig und wurde zu großen Teilen von Angehörigen der älteren Generation in die Hand genommen. Erst nach Abschluss des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrages vom 17. Juni 1991 erhielt die Deutsche Minderheit volle Rechte als n nach KSZE-Standard sowie eine Vertretung im polnischen Parlament (Sejm).

Laut Volkszählung aus dem Jahre 2002 bekennen sich 152.897 Einwohner Polens zur deutschen Volkszugehörigkeit. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 0,38 %. Die meisten Deutschen leben in der oberschlesischen Woiwodschaft Oppeln, wo sie mit 106.855 Menschen 10,033 % der Bevölkerung ausmachen. In den übrigen Woiwodschaften liegt der Anteil der deutschen Bevölkerung zwischen 0,005 % und 0,672 %. Obwohl in Oberschlesien überwiegend Polen, Deutsche und Tschechen leben, gibt es heute wieder eine Gruppe von Oberschlesiern, die sich ausschließlich als (Ober-)Schlesier bezeichnen, was auch bei der letzten Volkszählung von 2002 zur Geltung kam. Dies ist auf die historisch stark ausgeprägte eigene Identität der Oberschlesier, den eigenen Dialekt, aber auch auf die Sanktionen durch den polnischen Staat von 1945 bis 1989 an der Bevölkerung Oberschlesiens zurückzuführen.27

Die Deutsche Botschaft in Warschau hingegen geht von rund 300.000 Bürgern deutscher Nationalität aus. Sie leben vor allem in den Woiwodschaften Oppeln und Ermland-Masuren. Darüber hinaus gebe es Deutsche in Pommern, Ostbrandenburg, Niederschlesien, Oberschlesien, Danzig, Posen, Bromberg, Thorn und Lodsch.28 Deutsche leben heute also vor allem in den Gebieten, die früher Teil des Deutschen Reiches gewesen sind. Bei der Deutschen Minderheit in Polen handelt es sich somit mehrheitlich um alteingesessene Personen, die bei statistischen Erhebungen angeben, „Deutsche“ zu sein. Das „Schlesische Wochenblatt“, die auflagestärkste Zeitung in Polen, die sich überwiegend an deutschstämmige Personen richtet, schätzt die Zahl der Deutschen allein im Oppelner Land auf ca. 200 000 Personen.29

Laut der Volkszählung in Polen von 2002 gebrauchen 204.573 Menschen in ihrem Privatleben die deutsche Sprache, davon sind 100.767 polnischer, 91.934 deutscher und 11.872 anderer Nationalität.30

Gemäß dem polnischen Minderheitengesetz von 200531 können Gemeinden ab einem Minderheitenanteil von mindestens 20 % offiziell als zweisprachig anerkannt werden und Deutsch als sog. Hilfssprache einführen. Dabei werden die Ergebnisse der polnischen Volkszählung von 2002 herangezogen, wonach 28 Gemeinden diesen Anteil von Deutschen an der Gesamtbevölkerung erreichen.32

Bis 2005 haben etwa 288.000 Bürger in Polen, insbesondere in Oberschlesien und Masuren, die Bestätigung erhalten, von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen. Die deutsche Staatsbürgerschaft wird auf Antrag vom Bundesverwaltungsamt33 festgestellt.

c. Begriff der Minderheit

aa. Allgemein

Die Bestimmungen in Art. 20 und 21 des Nachbarschaftsvertrages betreffen Minderheiten und es stellt sich die Frage, ob es sich bei den Polen in Deutschland und den Deutschen in Polen überhaupt um Minderheiten handelt. Da dieser Begriff weder im Deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag noch sonst im Völkervertragsrecht definiert ist, ist der in der Lehre vertretene Minderheitenbegriff entscheidend (Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut). Nur dann, wenn es in Deutschland eine polnische und in Polen eine deutsche Minderheit gibt, spielen im bilateralen Verhältnis die den Minderheitenschutz betreffenden Regeln eine Rolle. Nur wenn eine Minderheit vorliegt, kann Minderheitenschutz eingefordert werden.



bb. Definition

Die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen können den Begriff der Minderheit34 jeweils unterschiedlich bestimmen: Das Verständnis vom Vorliegen einer Minderheit ist von den gesellschaftlichen Prägungen eines Staates und von den spezifischen innerstaatlichen Wertvorstellungen abhängig.35 Der Minderheitenbegriff des Völkerrechts kann sich aber davon unabhängig entwickeln.

Eine Minderheit stellt eine Gruppe dar, die nummerisch kleiner ist als der Rest der Bevölkerung des Staates. Dieses Begriffsmerkmal ergibt sich aus dem Wortsinn, da „Minorität“ ein „Weniger“ im Verhältnis zu einer „Majorität“, also einer Mehrheit der Bevölkerung, darstellt. Somit werden von vornherein bestimmte Gruppen nicht vom Begriff der Minderheit erfasst.36 Wenn in einem Staat mehrere Volksgruppen existieren, ändert dies nichts an diesem Befund, da alle in dem Staatsgebiet ansässigen Volksgruppen zusammen das Staatsvolk bilden und somit die nummerische Inferiorität einer Gruppe sich in ihrem Verhältnis zu allen anderen zusammen bestimmt.37 Da mit den Normen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes Volksgruppen und nicht sonstige Minderheiten wie Homosexuelle, Behinderte, Obdachlose, Kinder oder Senioren gemeint sind, böte sich als besserer Ausdruck der Begriff des Volksgruppenschutzes an, zumal auch Volksgruppen, die eine Mehrheit im Staate darstellen, von einer Minderheit unterdrückt werden können und daher schutzbedürftig sein können.

Eine wichtige Definition des Begriffes der Minderheit stammt von Francesco Capotorti. Er bezog sich allerdings hauptsächlich auf den Minderheitenbegriff des Art. 27 IPbpR. Seine Begriffsbestimmung fand aber großen Zuspruch. Capotorti38 trifft eine Unterscheidung zwischen objektiven (1) und subjektiven (2) Komponenten des Minderheitenbegriffs, die auch hier beibehalten werden soll, allerdings mit wesentlichen Ergänzungen.




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