(d) Das Merkmal der Stabilität
Die bislang abgeschlossenen universellen und regionalen Abkommen beziehen sich auf Minderheiten, die seit unvordenklichen Zeiten auf dem Staatsgebiet der Vertragsstaaten leben oder aufgrund völkerrechtlich relevanter Vorgänge mit ihrem Siedlungsgebiet einem bestimmten Staat zugewiesen wurden. Es ist daher fraglich, ob später zugezogene Ausländer und deren Nachkommen durch nachträgliche Einbürgerung in den Genuss der bestehenden Minderheitenschutzbestimmungen kommen könnten.
Das Merkmal einer gewissen Stabilität der Gruppe verhindert, dass eine sich nur vorübergehend im Lande aufhaltende Volksgruppe mit Unterstützung des Völkerrechts den Status als Minderheit beanspruchen kann.68 Gerade bei einem starken Zustrom von Gastarbeitern, Asylanten und Flüchtlingen in ein Land dürfte es bei mangelnder Assimilierungsbereitschaft der Gruppen zu einer rasanten Vermehrung von Minderheitengruppen kommen, deren Schutz der Staat nicht mehr bewerkstelligen könnte, was im Übrigen auch zu Lasten der autochthonen Gruppen ginge.69
Das Kriterium der Stabilität war auch Gegenstand der Verhandlungen zu Art. 27 IPbpR. Entgegen der deutschen Übersetzung gehen beide Originaltexte von Minderheiten aus, die bereits auf dem Staatsgebiet der Signatarstaaten leben.70
Das Europäische Rahmenübereinkommen führt nirgendwo das Kriterium der Stabilität auf. Dennoch gab es während der Entstehungsgeschichte des Minderheitenschutzes in der Nachkriegszeit immer wieder Bestrebungen, eine derartige Anforderung an den Status als Minderheit zu stellen. Ansätze dafür enthält auch der Vorschlag seitens der österreichischen Regierung an den Ministerrat der KSZE von 1991: So sollte die Definition des Begriffs Volksgruppe als teilweises Synonym des Begriffs der Minderheit das Erfordernis der traditionellen Beheimatung (“traditional residence”) enthalten. Nach der Praxis Österreichs ist dieses Kriterium der traditionellen Beheimatung dann erfüllt, wenn die Gruppe seit mindestens drei Generationen im Staatsgebiet angesiedelt ist.71 Eine derartige zeitliche Dimension fand allerdings weder in die Definition des Begriffs Volksgruppe noch in die Definition des Begriffs Minderheit Aufnahme.
Bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz von Minderheiten oblag es dem Signatarstaat, hinsichtlich des Stabilitätserfordernisses Vorbehalte zu äußern. Die Bundesrepublik Deutschland ist dieser Möglichkeit nachgekommen, als sie bei der Ratifikation den Vorbehalt äußerte, dass das Rahmenübereinkommen nur für diejenigen Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland Anwendung finden soll, die sich traditionell auf dem Staatsgebiet aufhalten. Da hierbei auch die in den Schutzbereich einbezogenen Gruppen expressis verbis bezeichnet worden sind, ist dieser Vorbehalt auch nicht dynamisch, das heißt, das Rahmenübereinkommen wird sich nicht nach Zeitablauf von mehreren Jahrzehnten auf permanent im Bundesgebiet lebende, nicht assimilierte Gruppen erstrecken. Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten könnte nur durch eine Abänderung oder Streichung des hinterlegten Vorbehalts erreicht werden. Wollte die Bundesrepublik Deutschland irgendwann eine Änderung vornehmen, müsste sie Regeln zur Lösung der Frage aufstellen, ab welchem Zeitpunkt eine Gruppe traditionell auf ihrem Hoheitsgebiet beheimatet sein muss, um Willkür und Ungleichbehandlung auszuschließen. Ob hinsichtlich der Wanderbewegungen der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten ein Zeitraum von drei Generationen, so wie es die österreichische Praxis vorsieht, ausreicht, ist allerdings fraglich. Nach der in den letzten Jahrzehnten entstandenen fortschreitenden Erleichterung der Niederlassung in anderen Staaten im Rahmen der Vereinbarungen auf dem Gebiet der Europäischen Union darf die Grenze der traditionellen Beheimatung nicht zu niedrig gesetzt werden, da bei nicht restriktiver Handhabung der Bestimmung nach kürzester Zeit eine zu große Zahl von Gruppen in den Genuss der Minderheitenrechte kommen würde mit der Folge, dass effektiver Minderheitenschutz nicht mehr zu leisten wäre. Aber auch die Erleichterung des grenzüberschreitenden Verkehrs aus nichteuropäischen Staaten muss dazu führen, eine restriktive Handhabung des Begriffes der traditionellen Beheimatung sicherzustellen.72
Die polnischen Arbeiter in Deutschland stellen somit nach diesem Kriterium keine Minderheit dar, wohl aber die Deutschen in Polen, da sie bereits seit 800 Jahren etwa in Schlesien, Hinterpommern und Ostpreußen beheimatet sind.
(e) Schicksalsgemeinschaft aufgrund territorialbezogener völkerrechtlicher Akte
Ausgehend von dem Gedanken, dass es nicht Aufgabe der Staatengemeinschaft sein kann, aufgrund freiwilligen Entschlusses in ein Staatsgebiet immigrierte Personen unter einen besonderen, gegenüber der einheimischen Bevölkerung teilweise sogar hervorgehobenen Schutz zu stellen, muss noch ein weiteres Kriterium zur Bestimmung einer Minderheit hinzukommen, nämlich ein ganz spezieller völkerrechtlicher Akt, der die Gruppe zur Schicksalsgemeinschaft gemacht hat, die es zu schützen gilt.
Deshalb ist es sinnvoll, nur solche Personengruppen zu schützen, die aufgrund völkerrechtlich relevanter Vorgänge zu einer Minorität geworden sind. Dazu gehören Staatsgründungen eines Mehrheitsvolkes unter Einbeziehung des Siedlungsgebiets einer oder mehrerer sich davon unterscheidender Volksgruppen. Als völkerrechtlich relevante Vorgänge kommen ferner Grenzverschiebungen durch Zession, Sezession, Annexion, Dismembration oder Fusion in Betracht,73 schließlich Zwangsumsiedlungen, Flucht und Vertreibung.
Wesentlicher Aspekt bei dieser Betrachtung ist, dass nur solche Gruppen als Minderheiten anzusehen sind, die entgegen oder ohne ihren Willen in ein bestimmtes Staatsgebiet gelangt sind, sei es dass das fremde Staatsgebiet zu ihrem Siedlungsgebiet gekommen ist, sei es, dass sie unfreiwillig in ein fremdes Staatsgebiet ausgesiedelt wurden. Sind sie dagegen freiwillig umgesiedelt, muss ihnen nicht der Schutz der Staatengemeinschaft zuteil werden. Auch deswegen fallen Wanderarbeitnehmer nicht unter die Definition der Minderheit im völkerrechtlichen Sinne, auch dann nicht wenn sie ein stabiles Gruppenbewusstsein entwickeln. Es bleibt allerdings den Staaten unbenommen, faktische Minderheiten als solche anzuerkennen, ihnen im innerstaatlichen Recht Minderheitenschutz zukommen zu lassen und sie auch völkerrechtlich dem Minderheitenschutz zu unterstellen. Dies wird insbesondere dann zu begrüßen sein, wenn vor Jahrhunderten eine Bevölkerungsgruppe eingewandert ist und sich als Volksgruppe seit jener Zeit behauptet.
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